Wir sprachen von Hastur und Cassilda
|| Zuerst erschienen in: Masken. Literaturzeitschrift Johnny der Goethe-Universität
|| Titel frei übersetzt aus: Robert W. Chambers in: The Yellow Sign, 1895.
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CN: ableistische Sprache, Tod, Mord
CAMILLA: You, sir, should unmask.
STRANGER: Indeed?
CASSILDA: Indeed it’s time. We all have laid aside disguise but you.
STRANGER: I wear no mask.
CAMILLA: (Terrified, aside to Cassilda.) No mask? No mask!
The King in Yellow, Act I, Scene 2.
– Robert W. Chambers in: The Mask, 1895.
Oma traf schon immer seltsame Entscheidungen, aber ihr Tod war die seltsamste von allen.
Die magisch angehauchten Geschichten von den Expeditionen ins Zweistromland oder ihren privaten - für eine geschiedene Frau ungeziemende - Reisen in alle Ecken der Welt, waren die Höhepunkte meiner Kindheit gewesen. Ich hatte nie verstanden, wieso sie nach der Grabung in Ur 1928 zurück an den Schreibtisch im British Museum kehrte, und London kein einziges Mal mehr verließ. Es war, als sei sie auf einmal festgekettet worden, dabei hatte sie sich sonst nie im Leben festketten lassen. Weder von der Gesellschaft, noch von meinem Großvater.
Ich gab mir zumindest teilweise die Schuld daran, denn im September 1929 packte mich ein furchtbares Fieber. Die Krankheit muss schlimm gewesen sein, denn ich erinnere mich selbst nicht mehr an das folgende Jahr, in dem sich Oma um mich kümmerte, damit sich meine Geschwister und Eltern nicht ansteckten. Damals war ich achtzehn Jahre jung gewesen.
Dass Oma am 10. Dezember 1937 ein Set viereinhalbtausend Jahre alter Spielsteine aus den Königsgräbern von Ur verschluckte und an ihnen erstickte ... Ich möchte behaupten, dass ich verwundert war. Aber während ich mich nach der Beerdigung in ihrem kleinen Haus umsah – nicht alleine, aber einsam –, überkam mich ein bedrückendes Gefühl des Verstehens. Ich dachte: Wenn ich mich eines Tages aus dieser Welt verabschiede, soll es auch auf die unverständlichste Art und Weise passieren.
„Was hat sie denn hier gemacht?“, drang Großonkel Howards Stimme aus der Küche. Ich wandte mich von der bilderübersähten Schlafzimmerwand ab, vor der ich gedankenverloren stehen geblieben war, und begab mich zu ihm und meiner adretten Cousine, die beide über den Hausmüll gebeugt standen.
„Da sind also ihre Skizzen hin“, murmelte Ruth, und Howard nickte langsam.
Ich spähte über ihre Schultern und blickte in den schwarzen Abgrund aus Asche und versengtem Metall. „Wie schade.“
Howard machte noch ein paar Minuten lang Anstalten, mit einer Grillzange nach Überlebenden zu suchen – nur ein Stück Kritzelei eines bedeutungslosen Symbols war am Boden übriggeblieben – bevor er den Eimer auf den Kompost brachte. Ich starrte ihm hinterher, mit einem erneut aufwallenden Gefühl von Verlust.
Viel zu tun gab es sonst nicht, während wir auf den Notar warteten, also streifte ich durch das Haus auf der Suche nach ... irgendetwas. Die Asche hatte eine schwache Erinnerung in mir geweckt, aber ich konnte nicht sagen, woran. Eine Migräne überkam mich.
Insgeheim hoffte ich, dass Oma mir etwas Wertvolles vererben würde. Ich hatte seit der Krankheit dank abgebrochenem Studium und stetig wachsenden Schulden kaum Boden unter die Füße bekommen, und etwas Geld könnte meine zahlreichen Probleme zumindest schmälern.
Doch der Notar kam – und ging. Wie befürchtet, blieb ich im Testament außen vor.
„Möchtest du nicht ein paar von Omas Büchern mitnehmen?“
„Danke, Mama, aber ich lese nicht mehr.“
„Dann vielleicht das hier?“ Sie hob ein schweres hölzernes Kreuz von der Wand und präsentierte es mir.
„Ganz bestimmt nicht.“
„Diese Einstellung ist eindeutig ein Grund für deine Situation, Darling!“ Sie war nett genug, die gewohnte Diskussion über mein Leben heute in Grenzen zu halten. „Nun ja, falls du doch etwas findest, das du gerne hättest, lass es mich wissen, ja?“
Ich suchte noch ein paar Minuten nach der Antwort zu einer unpräzisen Frage, die an mir nagte, bis meine Kopfschmerzen überhandnahmen. Während ich mich auf die lange Busfahrt heim in die winzige Stadtwohnung machte und mich endlich zu meinem Kater Sam ins Bett verzog, zwang ich mein gieriges Hirn, Oma nicht undankbar zu sein.
In meinem Traum sah ich sie vor mir, gekleidet in schicke Reiterhosen und eine braune Weste, mit einer Pistole am Gürtel. Sie hielt etwas hinter ihrem Rücken, und ich versuchte, um sie herum zu gehen, um zu sehen, was sie mir verheimlichte, aber sie drehte sich mit mir. Ich öffnete den Mund, um danach zu fragen, da riss mich ein Klingeln aus dem Schlaf. Sam sprang von mir herunter. Ich setzte mich auf.
Draußen war es noch stockdunkel, der Wecker auf meinem Nachttisch zeigte vier Uhr. Es klingelte erneut.
Mein Herz begann irrational zu rasen. In den Morgenmantel gewickelt schlich ich zur Tür, ohne das Licht anzuschalten. Als ich durch den Spion spähte, sah ich nur dunklen, leeren Flur.
Muss sich in der Etage vertan haben.
Ich atmete aus, stellte aber fest, dass ich keine Erleichterung spürte. Die unsinnige Angst saß mir noch in den Knochen, schüttelte meine Muskeln und krabbelte an meiner Wirbelsäule hinauf, als wäre ich gerade von einem Geist heimgesucht worden.
Ein paar Tropfen Wein hatte ich noch von meinem Geburtstag übrig, und die goss ich mir ein, kippte sie hinunter, ohne sie genießen zu können. Sam hockte jetzt an der Tür und versuchte durch den Spalt darunter durchzufassen. Ich nahm ihn in den Arm und kehrte zurück ins Bett. Das ungute Gefühl folgte mir bis unter die Decke.
Als ich am nächsten Abend viel zu spät von meiner unterbezahlten Arbeit zurückkehrte, passte mich die Hausherrin auf dem Weg die Treppe hinauf ab.
„Ms. Phillips, muss ich Sie daran erinnern, dass das Treppenhaus reinzuhalten ist?“
„Nein, Mrs. Greene, tut mir leid. Wird nicht wieder vorkommen“, antwortete ich mechanisch, ohne über ihre Worte nachzudenken.
„Das hoffe ich doch sehr. Seien Sie froh, dass ich gerade mit dem Putzeimer unterwegs war und die Sauerei für Sie beseitigt habe.“ Ich wagte nicht, nachzufragen. Was auch immer es war, ich hatte es heute Morgen nicht bemerkt. „Und ihre Katze hat den ganzen Tag Lärm gemacht. Wenn Sie das Tier nicht ruhig halten können, muss es weg.“
„Ich ... Ich werde mich darum kümmern, Ma’am. Schönen Abend noch.“
Es gab keine Anhaltspunkte im Flur für mich, über was sich Meine Hausherrin aufgeregt hatte. Ich schloss die Tür auf, Sam kam mir munter miauend entgegen. Die Wohnung hinter ihm sah absolut normal aus.
In dieser Nacht weckte mich Sam mit seiner rauen Zunge auf meiner Wange. Ich lachte und drückte ihn weg von mir, als ein forderndes Klopfen mein Lachen verschluckte. Der Atem blieb mir im Hals stecken. Sam sprang auf und schob sich durch den Spalt der Schlafzimmertür, aber ich war absolut unfähig, auch nur einen Muskel zu rühren. Das Klopfen folgte dem beklemmenden Pochen in meiner Brust, laut und aggressiv. Dann war Totenstille. Langsam zwang ich mich auf die Beine, spähte in das Wohnzimmer und zur Eingangstür.
Es blieb still.
Nach fünf oder zehn Minuten wagte ich, aufzuatmen. Ich machte Licht – heute Nacht war an keinen Schlaf mehr zu denken – und setzte Wasser auf. Sam hockte auf dem Sessel und spielte mit etwas. Wenigstens er ließ sich keine Angst einjagen. Während ich meinen Kaffee aufbrühte und zwei Scheiben altes Brot in den Toaster steckte, fragte ich mich, ob es ein Schuldeneintreiber war. Von jenen tauchten immer wieder neue auf, mit Forderungen aus der Zeit meiner Krankheit, wegen Dienstleistungen und Käufen, an die ich mich nicht erinnerte.
Mit dem fertigen Kaffee in der Hand scheuchte ich Sam aus dem Sitz. Er hatte etwas im Maul, das nicht nach Spielzeug aussah.
„Na was hast du denn da gefunden?“, fragte ich ihn und erwartete vielleicht eine Socke, als ich danach griff. Nein, keine Socke, aber Stoff. Ich entrang ihm das Teil: Ein gelber Fetzen, alt, rau, und auf eine Art und Weise gewebt, die mir unbekannt war. Das kam nicht von meiner Kleidung.
Ich warf es schnell weg und drehte das Radio auf.
Bevor die Sonne ganz aufgegangen war, klingelte es sch–
„Ms. Phillips!“, quäkte die Hausherrin, und ich war noch nie so froh gewesen, ihre schrille Stimme zu hören. Ich öffnete ihr.
„Guten Morgen, Ma’am.“
„Ich habe Sie gewarnt!“
„Ich bin gerade erst aufgestanden, Mrs. Greene, ich–“
„Schauen Sie sich das an!“ Sie trat zurück, und ich folgte ihr in den Flur, um zu sehen, wovon sie redete.
Zunächst verstand ich nicht, was ich dort sah. Ein unförmiges Symbol zog sich über die komplette Tür. Farbe? Nein, es sah aus, als hätte jemand es mit absoluter Präzision eingebrannt, also konnte es kein einfaches Gekritzel sein. Zu allem Überfluss suchte mich wieder eine Migräne heim. Ihr ging ein Gefühl der Vertrautheit voraus. Ein Déjà-vu vielleicht?
„Das war ich nicht, Mrs. Greene, ich schwöre es“, flüsterte ich.
„Wie dem auch sein mag, ich erwarte, dass Sie sofort die Tür austauschen lassen. Wenn Sie es nicht waren, können Sie ja die Polizei informieren.“
Ich nickte, kehrte zurück in meine Wohnung und schloss das abscheuliche Symbol und die ganze Welt aus, aber es wollte sich nicht aus meinem Kopf verbannen lassen, als hätte der Brennkolben nicht das Holz, sondern meine Gedanken bearbeitet.
Das Fenster im Schlafzimmer zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Es stand offen, und eisige, stürmische Luft ließ die Vorhänge sich wie Tentakel winden. Ich eilte hin und schloss es.
Sam hockte auf dem Kopfkissen, die Pfote auf einem Buch mit gelbem Einband abgelegt, seine leuchtenden Augen inquisitiv. Mein Radio in der Küche spuckte nur noch grauenhafte Statik aus.
Ich besaß keine Bücher ...
Die Telefonbox am Ende der Straße reagierte nicht auf die Münzen, die ich einwarf.
Die Brötchen verbrannten im Ofen, der Kaffee war zugefroren.
Realität wurde ein chaotischer Mahlstrom, dem ich nur noch entfliehen wollte.
Mit dem übrigen Monatsgeld und Sam in einem Korb stieg ich in das nächstbeste Taxi. Ich konnte keine halbe Stunde auf den Bus warten, und zwischen anderen Menschen stehen, als sei nichts. Auch wenn ich nur geradeso genug Geld für die Fahrt hatte.
In dem dunklen, stillen Flur atmete ich endlich wieder auf und ließ Sam aus dem Korb. Er streckte sich, sah mich irritiert an, und sprang davon ins Wohnzimmer. Ich hängte den Mantel auf und nahm das Buch – warum hatte ich es mitgenommen? The King in Yellow.
Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und in ein paar von Omas Slippern. In zwei Tagen würde Howard mit den anderen Erben die Wohnung nach den letzten Erbstücken durchforsten, und dann würde eine Firma kommen um alles übrige herauszureißen. Damit das Haus so bald wie möglich in neue, fremde Hände verkauft werden konnte. Der Gedanke machte mich wahnsinnig, jetzt da ich ihn zuließ.
Ich vermisse die Zeit mit Oma.
Es gab hier etwas, das ich nicht meinen Verwandten und erst Recht nicht der Müllhalde überlassen durfte. Ich wusste ganz genau, dass es existierte, aber ich hatte kein Bild vor Augen, was es überhaupt war – ein ungreifbares Wort auf der Zungenspitze.
Als lebte eine alte Gewohnheit wieder auf, legte ich mich auf die Couch und begann in dem Buch zu lesen. Es fühlte sich richtig an.
Ich hebe den Blick von der letzten Seite, meine Augen sind feucht von Tränen und wund von ... wie lange habe ich gelesen? Es ist nicht wichtig. Denn der König steht dort im Türrahmen und beobachtet mich durch jene weiße Maske, die Oma von mir fernhielt. Eine gesichtslose Maske, mit Augenlöchern so pechschwarz wie das Universum. Zwischen den Fetzen der gelben Robe hält er Sam, knochige Finger in enge Handschuhe gehüllt kämmen durch das schwarze Fell.
Erinnerungen steigen auf–
Oma und ich saßen über dem Stoff, stritten über den besten Weg, ihn untragbar zu machen. Wir verbrannten The King in Yellow im Wald. Ich hielt meine Hand in die Flammen mit dem Versprechen, nie wieder auch nur ein einziges Buch aufzuschlagen. Oma machte Notizen, während ich über die Dinge sprach, die ich getan hatte, um meine goldene Zukunft zu sabotieren. Damit man mich nicht fand, ich das sichere London nicht verlassen, nicht in die Nähe von Orten voller Versuchungen gelockt werden konnte. Büchereien und Museen waren ebenso tückisch wie geheime Kulte und Studentenverbindungen.
Ich vermisse den Geruch von alten Büchern.
–Mein Körper trägt mich zu der Gestalt. Nein, natürlich ist das nicht der König, jemand mimt ihn nur, jemand, der mich wieder hinter die Maske zwingen will–
Oma stand vor mir, eine Pistole auf mich gerichtet, drei Männer und eine Frau hinter ihr ebenfalls bewaffnet und vorbereitet auf das Schlimmste. Das Blut toter Menschen floss wie ein Strom durch den Raum und verdeckte das Zeichen, das an allen Wänden angebracht war, das die Gedanken eines jeden für mich offenbarte.
„Hast du das gelbe Zeichen gesehen?“, hatte mich ein Mann auf dem Campus gefragt.
Ich vermisse die Universität.
Irgendwie waren diese fünf vor mir dem Zeichen ausgewichen, oder hatten es nicht in sich aufgenommen, hatten ihm widerstanden. Omas Hand hob sich zu meinem verdeckten Gesicht und holte mich zurück in die menschliche Welt. Eine Welt, in der meine Familie auf meine Genesung wartete, während in der Finsternis Blut für mich vergossen worden war, und an der ich nun ausschließlich als Beobachter teilhaben durfte.
Wann war ich das letzte Mal im Museum?
–Ich hebe die Hand, wie sie es getan hatte, und greife nach der Maske. Die Robe fällt in sich zusammen, und Sam landet lautlos auf dem Boden. Ich kann den Gesang der Sterne hören, die Stimme eines vergessenen Gottes in meinen Knochen spüren. Sein Gesicht blickt mir entgegen, als ich die Maske drehe.
Er empfängt mich zurück, und gemeinsam brennen wir das Haus nieder und schreien seinen Namen über die Dächer der Stadt. Auf dass jene, die empfänglich für ihn sind, sich wieder versammeln mögen, und jene, die ihn verachten, vor Angst erzittern.
Ich war und bin der König in Gelb.