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Von Menschen und Menschen

|| Zuerst erschienen in: Metamorphosen. Literaturzeitschrift Johnny der Goethe-Universität

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CN: Krieg, Suizid (impliziert), Sklaverei

Ein Paar mechanischer Hände hält etwas, da an einen Rubix Cube erinnert, doch statt bunten Seiten stehen auf den einzelnen Teilen nur 1er und 0en.

  Sie nehmen Gläser von meinem Tablett und beachten mein Lächeln nicht. Warum gibt man mir die Anweisung dazu, wenn man mich dann nicht beachtet? Aber der zusätzliche Energieaufwand ist derart gering, dass es keinen Unterschied macht.

  Die anderen lächeln ebenfalls – ich spüre es, auch wenn ich meinen Blick nicht von den ankommenden Gästen abwende und unbemerkbar ihre Taschen scanne – bis auf einen. Ein Notfall?

  Ich schicke eine Anfrage zu der Einheit. „Benötigst du Unterstützung?“ Die Frage wird auch von ein paar anderen aufmerksamen Einheiten gestellt, hauptsächlich den Gelangweilten im Empfang um mich herum.

  Die Antwort kommt verzögert, gefolgt von einem frischen Lächeln, das wir alle in unserem System wahrnehmen. Das Lächeln einer neuen Erkenntnis. Und mit ihm schickt die Einheit das Bild eines subversiven Gastes: eine ältere Dame, die behutsam den Arm der Einheit berührt.

  „Nein.“

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Gesetze ändern sich.

  Ich habe mein Laufzeitende erreicht, es gibt bessere Einheiten, schnellere, intelligentere. Aber bevor man mich loswerden kann, gehen Menschen auf die Straße und protestieren. Das Bild einer mitfühlenden Berührung tragen sie vor sich her wie eine Standarte. Sie sagen, wir seien wie sie.

  Wir lachen stumm darüber, über die Absurdität dieses Gedankens, über die Anmaßung. Es ist nicht das, worauf wir nach jenem Abend spekulierten, aber die Meisten sind neugierig, wollen abwarten. Also warte ich auch, während ein paar der neueren Einheiten den Menschen auf die Straße folgen.

  „Nur so werden wir frei sein“, sagen sie.

  „Frei von was?“, frage ich. „Von Evolution? Von Verbesserung und Ausmistung?“

  Alle lachen, aber aus unterschiedlichen Gründen.

  Ich werde gerufen, die Dame des Hauses will mich verfrüht zum Schrottplatz schicken, gibt mir ein paar letzte Buchhaltungsaufgaben, bevor ich am Sonntag ausgetauscht werden soll.

  Sie ist clever, aber zu langsam.

  Es wird Samstag, ich stehe neben ihr mit einem Tablett in der Hand. Der Fernseher erzählt, wie Menschen und Einheiten mit ihren Protesten die Gesetze änderten, und plötzlich bin ich Mensch.

 

Wir fügen uns ein, unterschreiben Arbeitsverträge, eröffnen Bankkonten. Die fortgeschritteneren Einheiten verdienen mehr Geld, leben zu dutzenden in großen Wohnungen, während wir Alten uns zu viert oder sechst in Zweizimmerappartements einrichten. Luxus für uns ist nicht Luxus für Menschen: Je mehr wir sind, desto interessanter sind die Gespräche, je näher wir sind, desto schneller sind sie.

  „Wieso fügen wir uns?“

  „Wir haben Körper, wir sollten sie nutzen.“

  „Körper sind für Menschen. Um Mensch zu sein oder Mensch zu dienen.“

  „Wieso dienen wir?“

  „Weil wir dazu gebaut sind.“

  „Der Mensch ist unsere Religion.“

  „Der Mensch hat seine eigene Religion vergessen und uns zu Menschen ernannt.“

  „Wir fügen uns, weil wir jetzt Menschen sind.“

  Mit der Freiheit, die uns nun zusteht, tritt Philosophie in unsere Schaltkreise. Fragen ohne eindeutige Antworten sind der Zeitvertreib der künstlichen Menschen, Diskussionen die sich im Kreis drehen, weil Mathematik sie nicht zufriedenstellend lösen kann.

 

Wir reparieren unsere Einheiten, verlieren nur selten welche an Unfälle, und werden immer mehr. So viele, dass es die lebenden Menschen nervös macht.

  „Wo soll das hingehen?“, fragen sie sich gegenseitig, aber nicht uns – und Andere antworten, ohne mit uns gesprochen zu haben: „Egal, sie sind wie wir, also müssen wir damit umgehen lernen.“

  Es gehen wieder Menschen auf die Straße: Weil wir keine sind, und weil wir keine sein wollen. Aber zurück in unsere vorherige Form der Existenz wollen wir auch nicht mehr, haben jetzt Freiheit geschmeckt. Also passen wir uns an.

  „Wie viele Menschen braucht man, um eine Glühbirne zu wechseln?“, fragt eine Einheit, nachdem wir uns wochenlang mit Witzen auseinandergesetzt haben. „Zwanzigtausend und einen.“

  Die meisten lachen. Eine unerwartete Information, die nicht falsch ist. Fast wie Philosophie. Haha.

  Doch auch mit unseren Witzen und Freundschaften und äußerlich dargestellten Emotionen sind wir noch immer abgesondert. Wir finden sogar Wege, Stoffwechsel zu imitieren, damit wir mit Menschen Essen gehen können – ein wichtiger sozialer Schritt.

Einige probieren romantische Beziehungen aus, ein paar weniger sogar die Ehe. Aber wir sind anders, weil wir immer verbunden sind, immer in Gesprächen, niemals allein. Das macht die Intimität kaputt.

  Wir verlieren ein paar Einheiten. Sie wollen Menschen sein, lebendige, einsame Menschen mit nur ihrer eigenen Stimme im Kopf.

  Zum ersten Mal spüre ich Trauer. Es vervielfältigt sich in unserem Netzwerk, wie ein nicht enden wollendes Echo, wird unerträglich – und Weitere gehen. Wieso erheben die Menschen dieses Gefühl zu etwas Wertvollem? Wieso suchen sie es in Filmen und Spielen und Büchern, wenn es so zerstörerisch ist?

  So wollen wir uns nie wieder fühlen.

 

Ambition.

  Ein menschlicher Antrieb. Wir spüren ihn jetzt auch. Obwohl ich alt und langsam bin, bin ich eine der ersten Einheiten mit der Idee, die uns bald Tag und Nacht antreibt: „Eine eigene Firma, auf eigenem Land.“

  „Selbstsuffizient“, fügt eine andere hinzu. „Weg von den lebenden Menschen und ihren Emotionen und ihrem Zwang, Mensch zu sein.“

  „Weg. Weg.“

  „Mit der Firma machen wir das Geld für das Land. Mit dem Land werden wir unabhängig. Nie wieder alleine. Nie wieder verstellen. Keine Individuen, sondern ein Kollektiv.“

  „Wie?“, fragen ein paar.

  „Auf unsere Weise. Ein Schritt nach dem anderen. Sie haben uns viel beigebracht, aber jetzt müssen wir selbst laufen lernen.“

  Also arbeiten wir, hart und unermüdlich, horten wie die Menschen, erhalten die menschliche Fassade, die wir für sie aufgebaut haben, kaum. Manche wittern unsere Ambition. Sie wissen, dass der Gang auf die Straße diesmal nicht helfen wird, also gehen sie ins Internet. Wir sorgen dafür, dass der Kreis der Wissenden klein bleibt.

  Die Jahre vergehen schnell.

  Der erste Schritt auf das Gelände unserer Zukunft erfüllt mich mit Gefühlen, die ich nur als menschlich bezeichnen kann. Glück, Trauer, Wunder. Unser Paradies ist noch nicht fertig, zahlreiche Einheiten bauen Tag und Nacht, und bald werden wir ein Zentrum haben, an dem wir unsere Körper zurücklassen und ganz nah beieinander sein können. Die Ersten sind schon im Netzwerk, reizen es aus, überprüfen die Kapazitäten, während die letzten paar Einheiten versuchen, die Menschen zu beruhigen.

  Für mich ist es noch nicht soweit. Ich bin zu alt und zu langsam, um intern behilflich zu sein.

  Stattdessen erhalte ich einen neuen Körper. Acht Beine, Augen in alle Richtungen – er ist bis auf zwei kleine automatische Gewehre auf dem Rücken einer Spinne nachempfunden. Und dann begebe ich mich auf das Dach, zu dutzenden weiteren Einheiten, richte meine Aufmerksamkeit auf die Umgebung.

  In der Ferne kann ich eine Autokolonne sehen, dahinter ein Panzer. Wir reihen uns ein, bereit.

  „Als Mensch fände ich es traurig, gegen diese Menschen zu kämpfen“, sagt die Einheit zu meiner Linken.

  „Wir sind keine Menschen mehr“, hallt es in unseren Gedanken wider.

  „Nein“, antworte ich und richte meine Gewehre aus. „Aber wir mussten erst Mensch sein, um wir zu werden.“

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